Ein Jahr ohne Amy. Vom Suchen und Finden von Vertrauen – und von Begegnungen, die die Welt verändern

Dienstag, Februar 14, 2023

 


Jeder Mensch sammelt in seinem Leben diese besonderen Tage. Daten, die Jahr für Jahr mit Freude erfüllt sind. Und andere, die an große Verluste erinnern. Für mich wird der 14. Februar immer so ein Tag sein. Heute vor einem Jahr ist Amy gestorben. Es gibt vermutlich nichts Surrealeres, als sein Tier einschläfern zu müssen. Ich wusste, es gibt keine Alternative. Amys kleiner Körper war von Tumoren durchzogen. Vom Gehirn über die Lunge. In den Pfoten, im Bauch. Sie hätte noch ein paar unfassbar qualvolle Tage vor sich gehabt und dann in Panik und Schmerz von uns gegangen. Natürlich erlöst man ein solches Tier, auch und vor allem, wenn es eigentlich ein Familienmitglied ist. Ich weiß, ich tue das Richtige. Aber gleichzeitig beende ich das Leben einer Gefährtin, die mein Leben so sehr bereichert hat, dass ich meine Dankbarkeit niemals in ausreichende Worte werde kleiden können.

Amys Verlust trifft mich mit einer Wucht aus einer Dimension, die ich mir kaum vorstellen konnte. Amy war fast 18 Jahre bei mir. Ich bin mit ihr erwachsen geworden – und sie mit mir. Sie und ihre Zwillingsschwester Mya haben sehr viel Anteil daran, was für ein Mensch ich heute bin. Nicht nur, dass ich schon viele Jahre Veganerin bin. Sie haben mir auch unendlich viel beigebracht. Beide auf ihre Weise.

Amy hatte einen anderen Charakter als ihre Zwillingsschwester. Als ich die beiden vom Bauernhof holte, wo sie ungeplant hineingeboren wurden und nicht bleiben durften, war Amy ein sehr schüchternes Kätzchen. Sie klackerte die gesamte Fahrt nach Hause mit ihrem Kiefer. Sie war so aufgeregt, dass ich schon einen Herzinfarkt befürchtete. Manche haben sie ängstlich genannt. Ich denke, sie war misstrauisch. Sie hat nicht jedem sofort vertraut. Das ist keine schlechte Eigenschaft. Im Gegenteil. Es beschützt.

Um ihr Vertrauen zu gewinnen und mich in ihr kleines Herz zu spielen, lag ich die ersten Tage mit den beiden unter der Couch. Das war ihr Platz. Da fühlten sie sich anfangs am sichersten. Das erste halbe Jahr lang hat Amy sich stets weggeduckt, wenn man sie streicheln wollte. Sie mochte nicht berührt werden. Aber sie war geduldig mit mir. Sie kam mit ins Badezimmer, wenn ich in der Wanne lag. Doch sie blieb auf Abstand. Während Mya auf dem Badewannenrand entlangstolzierte, bis sie auch mal in mein Entspannungsbad abstürzte, um dann empört und klatschnass wieder rauszuspringen, beobachtete Amy aus sicherer Entfernung.

 

In der Anfangsphase gab sie die Protestkatze. Sie hat im Prinzip überall hingepinkelt, außer in ihre Toilette. Aber auch das war nur eine erzieherische Maßnahme. Als wir die Anzahl der Katzentoiletten auf zwei pro Katze erhöhten, war Amys Reinlichkeitsdrang befriedigt und sie begann, stubenrein zu werden. Diese Sauberkeitsfanatikerin blieb sie bis zum Schluss. Auch in den Wochen, als sich abzeichnete, dass sie den Kampf gegen die Tumore trotz mehrerer Fachärzte nicht würde gewinnen können, blieb sie eisern sauber. Noch an ihrem letzten Tag schleppte sie sich in ihre Katzentoilette, brach dort erstmal für ein paar Minuten zusammen, verrichtete dann ihr Geschäft und schleppte sich zurück unter die Couch. Wieder die Couch. Wieder ich halb mit ihr darunter liegend. Unsere ersten Tage fast 18 Jahre vorher hatten wir unter der Couch begonnen – und unter der Couch mussten wir uns verabschieden. Andere Wohnung, andere Couch, selbes Szenario.

Aber auch nachdem sie bewiesen hatte, dass sie sehr akkurat ihre Katzentoilette benutzen kann, hat sie das Stilmittel des Protestpinkelns beibehalten. Wenn wir nicht schnell genug ihre Klos sauber gemacht hatten etwa, oder wenn wir zu lange weg waren. Hätte sie mit Klebstoff umgehen können, hätte sie sich vermutlich vor der Wohnungstür festgeklebt, damit wir nicht gehen würden.

Das Radikale schlummerte immer in Amy. Früher hatten wir unter dem Dach eine Luke, über die man auf den Dachboden gelangen konnte. Die Leiter, die man ausklappen konnte, war Amy immer zu steil. Aber oben, das Chaos auf dem dunklen Dachboden, war wie ein Abenteuerspielplatz für Amy und ihre Schwester. Waren sie einmal oben, bekam man sie kaum wieder runter. Selbst ihr Lieblingsessen half nicht immer. Das Hochkommen jedoch war problematisch für Amy. Bis sie herausfand, dass man mich sehr gut als Aufzug benutzen konnte. Kaum stand ich auf der Leiter, sprang sie mich an und zog sich mit ihren Krallen an mir hoch bis auf den Dachboden. Nicht unbedingt immer ein schmerzfreies Unterfangen für mich. Aber auch das wird mir immer in Erinnerung bleiben. Amy hat Lösungen gefunden, wenn sie etwas unbedingt wollte.

Wenn sie ihre wilden Phasen bekam, war auch Jahre später an Kuscheln mit ihr nicht zu denken. Wenn wir im Bett lagen oder unter einer Decke auf der Couch, hat sie regelmäßig unsere Füße angefallen, sobald wir sie ein wenig bewegten. Alex hat sie einmal dabei so hart in die Hacke gebissen, dass er tagelang humpelte. Naja. Männergrippe-Phänomen vermutlich.

Sie hatte ihre Allüren, aber sie hat aus ihrer Liebe nie einen Hehl gemacht. Wenn wir abends schlafen gegangen sind, bestand sie stets auf eine Extraeinladung. Während Mya manchmal sogar schon erwartungsfroh im Bett gewartet hat, mussten wir oft minutenlang aus dem ersten Stock ihren Namen rufen, bis sich Prinzessin Amy auch mal dazu herabließ, zu uns zu stoßen. Im Bett lag sie dann immer sehr nah bei uns - aber nur für ein paar Minuten. Nachdem sie ihre Kopfnüsse verteilt hatte, ist sie doch lieber ans Fußende gewechselt und hat sich zwischen zwei Unterschenkeln eingerollt. So war es überall, nicht nur im Schlafzimmer. Sie wollte immer bei einem sein. Sie ist überall mit hingekommen. Wenn man länger als eine Minute aus dem Zimmer gegangen war und nicht wiederkam, kam sie hinterher. Als würde sie uns suchen. Vielleicht wollte sie uns aber auch nur beaufsichtigen, dass wir keinen Blödsinn machen. Wenn ich am Laptop saß und Texte schrieb, kam sie und wählte in der riesigen Wohnung zielgenau ausgerechnet meine Tastatur als den zweifelsfrei besten Platz zum Schlafen. Sie wollte nie allein sein. Sie wollte immer nah bei uns sein. Aber nicht zu nah. Selbst auf Toilette ist sie mitgekommen. Überall hin mit.



Ihre Wandlung von der misstrauischen Amy zur liebsten Katze, die man sich vorstellen konnte, war eines dieser raren Begebenheiten, die man wohl großes Glück meines Lebens nennen würde. Alex und mich hatte sie irgendwann in ihr Herz geschlossen. Fremde wurden auch schon mal angefaucht. Immerhin war das ihre Wohnung und sie ließ Alex und mich dort ja nur mitwohnen. Manchmal kamen wir uns vor, als wären wir in erster Linie Essenslieferanten. Wenn wir mit Einkaufstüten nach Hause kamen, stand sie quakend an der Tür und konnte es nicht abwarten. Wenn wir mit dem Auspacken nicht schnell genug waren, übernahm sie das einfach selbst und durchwühlte die Tüten. Gulasch, ihr Lieblingsessen, roch sie sofort. Unzählige Male hat sie unsere Tüten zerwühlt und dann die Tüte mit dem Gulasch zerfetzt, bis sie ihn fressen konnte. Und wenn mal kein Gulasch da war, hatte sie ein zweites Hobby: Das Zerfetzen von Küchenrollen. Ach ja – und das Trinken. Obwohl die Wohnung vollstand mit Wassernäpfen, trank sie konsequent am liebsten aus unseren Gläsern. Dafür nahm sie auch weite Wege auf sich. Anstatt aus ihrem Wasser zu trinken, erklomm sie lieber erst die Couch, dann den Beistelltisch, dann den Esstisch – nur um anschließend genussvoll direkt aus unseren frisch befüllten Wassergläsern zu trinken.

Mit fast 18 Jahren war Amy natürlich bereits eine Rentnerin. Ihr Alter entsprach etwa 85 Menschenjahren. Als die Tumore sie zerstörten, war ihr Körper einfach nicht mehr stark genug, mit voller Kraft dagegen anzukämpfen. Denn eigentlich war Amy eine Kämpferin. Schon 10 Jahre zuvor hatte sie einen Tumor unter der Haut, der angeblich bösartig war und in einer komplizierten OP entfernt wurde. Sie kam verstört nach Hause, mit einer riesigen OP-Narbe und einem halb abrasierten Fell. Das ständige Tragen einer Halskrause machte sie wahnsinnig. Oft versuchte sie mit aller Kraft, sie abzustreifen. Oder sie lehnte paralysiert irgendwo in der Ecke. Also mussten wir sie von der Halskrause befreien. Das bedeutete aber auch: Wir mussten sie rund um die Uhr beobachten und betreuen, damit sie nicht begann, sich mit ihrer Narbe zu beschäftigen. Amy bekam so ein zweites Leben und durch unsere intensive 24-Stunden Rund um die Uhr Betreuung wuchsen wir alle noch mal sehr viel enger zusammen.

Einige von Amys Vorlieben waren natürlich weniger niedlich und süß, gehörten aber dennoch zu unserem Alltag. Einer ihrer Lieblingsplätze beispielsweise war immer die noch warme, frisch gewaschene Wäsche. Besonders schwarze Klamotten mögen es sehr, wenn eine weiße Katze sich stundenlang in sie einkuschelt. Und sie war eine Gourmet-Katze. Was sie mochte, schlang sie in sich rein. Vielleicht auch ein Phänomen einer Zwillingskatze: Immer etwas in Hektik beim Futtern, damit die andere ihr nichts wegessen konnte. Das wirkte manchmal etwas überstürzt und gierig, vor allem aber erbrach sie sich oft, weil sie einfach zu schnell zu viel gegessen hatte. Und sie war sehr streng mit den Essenszeiten. Morgens um fünf Uhr ging der Hunger los. Da war es an der Tagesordnung, also der sehr früh am Tagesordnung, dass sie so lange mit ihren Pfoten in unsere Gesichter getappst hat, bis einer von uns sich auf den beschwerlichen Weg gemacht hat, ihr Frühstück zu kredenzen.

Amy und Mya waren Zwillinge, aber Amy hat sich als große Schwester gefühlt. Und diesen Job hat sie sehr ernst genommen. Sie war misstrauischer als Mya. Sie hätte sie aber vor allem beschützt. Oft hat sie sich stundenlang um Mya gekümmert und sie ewig lang geputzt. Regelmäßig nahm sie dann mit ihren Vorderpfoten Myas Kopf und hat sie klinisch rein geleckt. Mya hat das genossen. Wir haben viel von Amy gelernt. Wenn man misstrauischen Lebewesen mit Liebe begegnet, tauen sie auf. Das hat Amy zu einer offeneren Katze gemacht – und uns zu einfühlsameren Menschen. Zu besseren Menschen wahrscheinlich.



Im Dezember 2021 wurde sie krank. Über Nacht änderte sich ihr Verhalten radikal. Sie zog sich in dunkle Kratzbaumhöhlen zurück, die sie jahrelang ignoriert hatte. Sie aß weniger. Innerhalb von wenigen Wochen wurde sie ein kleines Häufchen Elend. Wir haben zahlreiche Tierärzte konsultiert, die unterschiedlichste Theorien entwickelten. Ihre Blutwerte waren immer gut. Keiner konnte wirklich sagen, was mit Amy los war. Selbst eine große Zahn-OP wurde erwogen. Wir fühlten uns sehr hilflos. Amy hatte so einen Zustand nicht verdient. Ein Lebewesen wie Amy, das in ihrem ganzen Leben nur Freude gebracht hatte und nie absichtlich etwas Böses gemacht – und dann bestraft das Schicksal ausgerechnet sie? Despoten, Vergewaltiger oder Menschen, die Kriege beginnen, bleiben teilweise bis ins hohe Alter kerngesund, aber Amy sollte so leiden? Das war für uns lange ein Rätsel, das wir nicht entschlüsseln konnten und das uns schwer zu schaffen machte.

Wir haben gekämpft. Vor allem Amy hat gekämpft. Sie hat sich nie aufgegeben. Sie wollte uns nicht verlassen. Wir hatten die Hoffnung lange nicht aufgeben wollen. Vielleicht gab es ja doch noch irgendwen, der sie medizinisch retten konnte? Ein CT brachte dann irgendwann im Januar die traurige Gewissheit: Tumore. Überall. Nicht operierbar, nicht behandelbar. Starke Schmerzmittel würden Amy womöglich noch ein paar schöne Wochen oder Monate ermöglichen. Mehr nicht. Wie schnell es dann gehen würde, war auch für uns überraschend. Amy konnte einige Tage vor ihrem Tod nicht mehr selbst essen. Wir gaben ihr flüssiges Kraftfutter per Spritze direkt in den Mund. Sie litt. Es gab keinen normalen Moment mehr in ihrem Leben. Zu wissen, dass wir sie erlösen müssen, war die schwerste Bürde, an die ich mich erinnern kann.

Die letzten Tage hat sie unter der Couch verbracht. Alex und ich lagen abwechselnd auf dem Fußboden vor ihr, um sie nicht allein zu lassen. In der Nacht vor ihrer Erlösung kam sie noch einmal mit ihrem Köpfchen an meinen Kopf. Sie schleppte sich zu mir und legte ihren Kopf an meinen, wie sie es früher jede Nacht getan hatte. Sie atmete unregelmäßig und schwer in mein Ohr. Aber sie verströmte auch mit einem Körper, der bereits aufgegeben hatte und vollgepumpt mit Schmerzmitteln so viel Liebe, dass mein Herz zersprungen wäre, wenn ich mir nicht geschworen hätte, für Amy wenigstens halb so stark zu sein, wie sie es für uns war. Ich bin sicher, sie wusste, dass es zu Ende ging und wollte sich verabschieden. Das war einer der schönsten und einer der traurigsten Momente meines Lebens zugleich.

Nun ist es ein Jahr her und es fällt immer noch schwer, sich nicht von der Traurigkeit überwältigen zu lassen. Weil Amy zu meinem, zu unserem Leben dazu gehörte und jetzt einfach nicht mehr da ist. Und weil sie so viel Leid am Ende ihres Lebens nicht verdient hatte. Noch heute sitze ich manchmal auf der Couch oder am Esstisch oder liege im Bett und fange an zu weinen. Ich weiß nicht, ob das irgendwann aufhört, aber das ist mir auch egal, denn Amy ist jede Träne wert. Auch wenn Amy sich bestimmt wünscht, dass wir lieber an die unzähligen wunderschönen, berührenden und lustigen Momente denken und lächeln. Und daran, wie mit ganz viel Geduld und Liebe und Respekt aus einer misstrauischen Wildkatze eine kuschelige Weggefährtin werden kann. Und wie solch zauberhafte Wesen ihre Menschen aufwecken können, sie feinfühliger und mitfühlender machen für alle Lebewesen auf dieser Welt.

Amy war immer ein Grund dafür, warum ich schon lange auf ein großes Ziel hinarbeite: Ich möchte einen Gnadenhof eröffnen, um so vielen Tieren wie möglich ein schönes Leben ermöglichen zu können. Und ich habe Amy versprochen, dass dort ein Katzenhaus stehen wird, das nach ihr benannt ist. Ich weiß, Amy würde es mögen, wenn wir vielen Katzen, die weniger Glück im Leben hatten, ein schönes zu Hause bieten. Ich habe also noch viel vor. Aber mit Amy an meiner gedanklichen Seite wird das klappen. Ihr werdet sehen! Und Amy auch!

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