Liebe Flüchtlinge, Ihr seid willkommen. Das verspreche ich Euch.

Dienstag, März 08, 2016


Liebe Flüchtlinge, es ist gut, dass ihr hier seid, weil ..."

... es nichts gibt, das uns mehr über Menschen oder eine Gesellschaft sagen kann, als die Art und Weise, wie sie mit Hilfsbedürftigen umgehen. Und Deutschland kann in Zeiten wie diesen einen Charaktertest gut gebrauchen. 

Als ich sehr jung war, gab es einen Brandanschlag auf eine Synagoge. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder rief damals zu einem „Aufstand der Anständigen" auf. Ich war noch keine 12 Jahre alt, aber ich erinnere mich daran, wie es mir auf eine völlig surreale Art eigentümlich vorkam, dass man sein Land daran erinnern musste, sich menschlich und hilfsbereit zu zeigen - jedem Menschen gegenüber. 

Heute haben wir das Internet. Vielleicht erinnere ich mich auch falsch, vielleicht war ich zu jung, aber damals, im Jahr 2000, hatte noch nicht jeder eine Flatrate, internetfähige Handys oder W-Lan in jeder Pommesbude. Heute können wir uns viel schneller und direkter äußern. Das Internet spült uns zwar auch jede Menge geistigen Sondermüll in die Timelines. Rassistischen Dreck, der als Patriotismus oder Besorgnis getarnt wird.
Und der doch nur der offensichtliche Schrei von bildungsfernen Nichtskönnern nach etwas Anerkennung ist. Denen die Angst aus jeder Pore schwitzt, dass ihre völlige Nutz- und Bedeutungslosigkeit sich noch verschlimmern könnte, wenn ihnen wegen der vielen bösen Ausländer der Hartz IV Satz gekürzt wird. Die sich einreden, dass sie Arbeit hätten oder mehr Geld vom Sozialamt, wenn uns nicht Millionen von Wirtschaftsflüchtlingen überschwemmen würden. 

Sie sind stark in der Masse auf der Straße und finden irgendwann irgendeinen Vollidioten, der ein Flüchtlingsheim anzündet oder den Wagen eines Lokalpolitikers in die Luft jagt, der sich für Integration und Solidarität einsetzt. Und sie sind Stark in der Anonymität des Internets, wo sie ihre von Orthographie- und Interpunktionsschwäche durchtränkten Hasstiraden loswerden und sich an einer Handvoll Likes von Gleichgesinnten laben können. 15 Sekunden Ruhm. 

Ich habe in meinem Leben schon so viel Hilfsbereitschaft von völlig fremden Menschen an so vielen fremden Orten in fernen Ländern erfahren und schäme mich, dass mein Land, auf das ich stolz sein soll, Flüchtlinge im Jahr 2015 mit Ablehnung, Aggressivität und Feindlichkeit empfängt. 

Flüchtlinge kommen aus Gebieten, wo sie gerade noch einem Bombenhagel entkommen konnten. Wo sie ihr Haus, ihre Heimat verlassen haben, in der sie einst ein glückliches Leben führten und das sie gerne so weiter geführt hätten. Den stakkatoartigen Geräuschteppich der Schüsse und Detonationen von der Ferne in der Nacht im Ohr. Geräusche der Angst, der Panik, die Menschen wie wir, die das Glück hatten, in Deutschland geboren zu sein, höchstens aus Filmen kennen. 

Ich bin froh, dass wir jetzt auf die Probe gestellt werden. Wir alle. Denn durch das Internet können wir jetzt alle Gerhard Schröder sein. Jeder von uns kann einen „Aufstand der Anständigen" ausrufen. Laut hinaus in alle Timelines oder leise in seinen eigenen kleinen Mikrokosmos aus Familie und Freunden. 

Niemand beschwert sich, dass seine Pizza von einem Italiener gebacken wird, seine Tapas von einem Spanier zubereitet wurden. Oder dass seine Designerjeans von einem Franzosen entworfen wurde. Nur wenn ein Syrer Arzt oder Ingenieur werden möchte, ist er plötzlich eine Gefahr. 

Mal unabhängig davon, dass ich den Deutschen sehen möchte, der sich vor Flüchtlingsheimen zusammenrottet und meistens mindestens volksverhetzende Parolen brüllt, der ein Medizinstudium auch nur ansatzweise überstehen würde, schaden diese Menschen sich selber. Niemandem sonst.
Sie finden, dass Deutschland zu viel Geld für Flüchtlinge bereit stellt? Gute Idee, dann die Unterkünfte anzuzünden, damit sie für viele Millionen Euro wieder aufgebaut werden müssen. 

Ich möchte in einem Land leben, wo Kulturen und Weltanschauungen nebeneinander inspirierend und friedlich leben. Wo meine Familie und meine Freunde, hoffentlich irgendwann auch meine Kinder, davon profitieren können, dass Menschen aus aller Welt eine Lebensphilosophie der Gleichheit, Nächstenliebe und des Optimismus geschaffen haben. 

Ich kann mir vorstellen, dass eine Familie, die vor Hunger, Mord und Krieg geflohen ist und in Deutschland Schutz und Hilfe erhält, ewig dankbar dafür ist und alles tun wird, zu einer solchen Atmosphäre beizutragen. Ich möchte Menschen in meinem Leben und in meinem Land, die anderen Menschen helfen. Hilfe für die, die es am nötigsten haben, sollte kein politisches Ränkespiel, sondern eine Selbstverständlichkeit sein.
Ich tausche sofort jeden Flüchtling, der sich in Deutschland mit Fleiß und Lernbereitschaft ein gutes Leben aufbauen möchte, gegen einen Deutschen, der vor Flüchtlingsheimen steht und Naziparolen skandiert.
Liebe Flüchtlinge, es ist gut, dass ihr hier seid, weil ... Ihr mein Leben, meinen Alltag und meine Welt bereichert. Und mich herausfordert, mich wieder wohler in meiner Haut und meinem Land zu fühlen, weil ich aufstehen will gegen die schwachsinnigen Krawalldeutschen, die sich wieder formatieren. Aber sie können Euch nichts anhaben. Sie können uns nichts anhaben. Hass ist kein Argument. 

Auf jeden Unverbesserlichen Deutschen, der Euch bedroht oder beleidigt, kommen 1.000 Deutsche, die Euch die Hand reichen möchten. Diese Deutschen werden aufstehen. Ihr werdet ihre Hände sehen, die Euch aufhelfen. 

Ihr werdet ihre Stimmen hören, die Euch leiten. Ihr werdet ihre Gesichter sehen, die Euch anlächeln. Das verspreche ich Euch. Ich glaube an die Menschen und ich glaube an mein Land.

Heute, mit diesem kleinen Text, bin ich ein bisschen Gerhard Schröder. Nur eine kleine Kerze im Universum der Flutlichter der täglich auf Euch einprasselnden Informationen. Aber Ihr seid mir bis hier her gefolgt. Also appelliere ich hier und heute an jeden vernünftigen Deutschen: Seid auch Gerhard Schröder.


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Fotocredits: © GettyImages

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