Wir haben Paul getötet

Sonntag, Februar 18, 2018


Ein kalter, aber sonniger Donnerstag im Februar. Ich bin mit drei Freunden auf dem Weg von Köln nach Hamburg. Passend dazu, dass wir Kilometer für Kilometer auf der A1 in Richtung unserer gemeinsamen Heimatstadt runterreißen, läuft Jan Delay aus allen Rohren. Vier Hamburger Mädchen lassen das Rheinland hinter sich und grölen „... und ich bin nicht allein hier, ich hab meine Posse bei mir, und das geht RammPammPamm, alle Lampen an“. Wir singen nicht gut, aber laut und das ist okay, denn es macht gute Laune und ein bisschen hanseatischer Flair kommt sogar auf diesem trostlosen Asphalthighway zwischen den Metropolen Bramsche und Neunkirchen/Völden auf.

Ich fahre eigentlich lieber Zug als Auto, aber zu viert und mit einer Menge Koffern macht das irgendwann auch keinen so großen Spaß mehr. Auf langen Autofahrten habe ich mir angewöhnt, die vielen Tiertransporte irgendwie zu ignorieren. Ich gebe zu, ich schaue dort bewusst weg. Nicht, weil ich das Problem totschweigen möchte, sondern zum Selbstschutz. Ich versuche so gut es geht und so oft wie möglich meiner Umwelt und mittlerweile auch meinen Followern meine grundsätzliche Überzeugung zuteil werden zu lassen, dass ich es für absolut unnötig und falsch betrachte, Tiere zu unserem Vergnügen zu töten. Aber fahre ich an einem Laster vorbei, in dem unschuldige Tiere in ihren sicheren Tod im Schlachthof gefahren werden, muss ich wegschauen. Zu groß wäre meine Trauer und Wut darüber, dass ich Teil einer Gesellschaft bin, die es zulässt, dass Lebewesen unter entsetzlichen Bedingungen gezüchtet und dann durch halb Europa transportiert werden. Nur, um anschließend in industriellen Massenschlachtanstalten getötet und zu einem Stück Fleisch verarbeitet zu werden, das einzig unter Einsatz von viel Chemie und Kühlketten so lange an der Verwesung gehindert werden kann, bis jemand es für ein paar Cent im Supermarkt kauft, mit extrem vielen Gewürzen und Saucen irgendwie schmackhaft macht und isst.

Paul

An diesem sonnigen Donnerstag jedoch ist es anders. Wie ein Hinweis des Schicksals, dass man immer mehr machen kann und Wegschauen keine Option ist, fahren wir an einem solchen Tiertransporter vorbei. Wie sonst auch ist mein erster Reflex, wegzuschauen. Doch dieses Mal gelingt es mir nicht. Direkt am ersten „Fenster“ - dieser winzigen Öffnung in den Tiertransportern, die ein wenig Luft in den Wagen lassen - sehe ich ihn. Ein kleines Kalb. Es ist noch sehr klein, das sieht man an der Haltung, wie es seinen Kopf versucht, aus dem winzigen Fenster zu halten. Vermutlich ein männliches Kalb, die geben keine Milch und sind industriell betrachtet nur für das Erzeugen von Kalbsfleisch nutzbar. Ich habe mir angewöhnt, Lebewesen Namen zu geben. Jedes Lebewesen verdient es, wenigstens einen Namen zu haben. Noch bevor wir den Tiertransporter zur Hälfte überholt haben, nenne ich ihn Paul.

Paul ist fast weiß, sehr niedlich und hübsch und schaut mir direkt in die Augen. Paul ist neugierig. In der Sekunde, in der mir klar wird, dass diese Fahrt, auf der er sehnsüchtig versucht, durch den winzigen Schlitz ein wenig Wind abzubekommen und ein wenig von der Welt zu sehen, seine einzige bleiben wird, stehen mir die Tränen in den Augen. Paul ist ein Lebewesen. Er hat eine Mutter. Er hat Bindungen zu anderen Lebewesen. Es ist längst nachgewiesen, dass Tiere und auch Rinder soziale Bindungen eingehen. Wobei man die Wissenschaft dafür nicht gebraucht hätte. Jeder, der mal ein paar Stunden mit einem Tier verbracht hat, weiß, dass sie Liebe, Schmerz und Zuneigung fühlen können, genau wie wir.

Fotocredits: © PETA.de



Tränen lügen nicht

Paul kommt vermutlich aus einer dieser Zucht-Fabriken und war von der ersten Sekunde seines nur wenige Monate alten Lebens dazu auserkoren, irgendwann als billige Salami oder Kalbsfilet auf unseren Tellern zu landen. Wahrscheinlich ist es das erste Mal in Pauls Leben, dass er Tageslicht gesehen hat oder Bäume oder Blumen. Mit absoluter Sicherheit jedoch wird es das letzte Mal sein.

Ich habe seit 10 Jahren kein Fleisch mehr gegessen. Ich lebe seit fast drei Jahren vegan. Mit Ausnahme von ganz kleinen Rückfällen in Paris, wenn mich zwei, drei Mal im Jahr das Verlangen nach einem Dessert, in dem vermutlich auch Sahne oder Ei enthalten ist, packt, schaffe ich es ziemlich konsequent, kein Teil der Tötungsmaschinerie zu sein. Und doch schäme ich mich in diesem Moment. Für jedes kleine Dessert in den vergangenen Jahren und dass ich nicht viel mehr tue. Viel mehr, um so viele Lebewesen wie möglich zu retten. Um Paul zu retten.

„Sie kann nicht tanzen“ singen die anderen drei Mädels ausgelassen, bis die erste bemerkt, dass ich, die Fahrerin, in Tränen ausgebrochen bin. Plötzlich ist Jan Delay nur noch Nebensache. Ich erzähle ihnen von Paul und kann nicht aufhören zu weinen. Sturzbäche rauschen meine Wangen hinab. Ein Strom der Wut über die Welt, über die unmenschliche Industrie, die Gesellschaft, über mich. Mit viel Mühe halten sie mich davon ab, den Lastwagen auszubremsen und Paul zu befreien.

Die Hilflosigkeit des Moments

Ich weiß, dass das letztendlich nichts gebracht und noch nicht einmal Pauls Leben gerettet hätte. Es wäre eine Randnotiz in der lokalen Presse gewesen, Paul wäre eingefangen und trotzdem geschlachtet worden und ich hätte mich vor Gericht verantworten müssen. Viel Zeit und Geld hätte das gekostet, das ich lieber investieren sollte, um die Menschen darüber aufzuklären, dass wir Paul getötet haben. Ich, Du und jeder, der sich keine Gedanken um andere Lebewesen macht.

In diesen Sekunden, in denen Ihr diesen Text lest, ist Paul bereits tot. Erbarmungslos aus dem Lastwagen in eine Tötungsfabrik abgeladen. Ich wünsche mir, diese kleine unschuldige Seele hat nicht gemerkt oder gar gesehen, was ihm selbst unausweichlich widerfahren wird und dass er einen schnellen schmerzlosen Tod hatte. Paul hinterlässt eine trauernde Mutter, die in ihrem Leben bis zu 5 Kälber auf diese Art verlieren wird, bevor sie mit circa 6 Jahren ebenso im Schlachthof endet - das jährliche Gebären und Milchgeben ist zu kräftezehrend, als dass sie auch nur annähernd ihre natürliche Lebenserwartung von 20 Jahren erreichen könnte. Die Milch, die eigentlich für Paul und seine Geschwister - Tierbabys -  bestimmt war, trinken stattdessen wir Menschen. Ich würde mir wünschen, dass jeder Mensch auf der Welt Veganer wäre. Ja, wirklich. Für die Tiere, für die Lebewesen. Aber auch für die Umwelt. Und die Gesundheit. Ich weiß, dass das nicht passieren wird. Aber man darf seine Augen trotzdem nicht verschließen. Wenn man Fleisch isst, muss einem bewusst sein, dass dafür ein Leben geopfert wurde. Ein Leben, wie das von Paul. Das eines Lebewesens, das der Welt nichts getan hat und niemandem jemals etwas Böses wollte. An diesem Donnerstag wurden mehr als 10.000 weitere Kälber und Rinder getötet, so wie jeden Tag - alleine in Deutschland.

Eine bessere Zukunft

Die Zeit spielt für uns, rede ich mir ein. Früher dachte man, die Erde ist eine Scheibe. Man hat Hexen verbrannt. Frauen durften nicht wählen. Farbige galten als Sklaven. Jede Gesellschaft entwickelt sich. Veränderungen brauchen Zeit, aber die Menschheit hat sich in so vielen Bereichen zum Positiven entwickelt. Ich bin mir daher sicher, dass es Zeiten geben wird, in denen Kinder ihre Eltern mit ungläubigen Augen fragen werden, ob es stimmt, dass die Menschen früher Tiere gegessen haben.

Und schon heute kann man seinen Teil dazu beitragen, die Welt ein wenig schöner zu machen. Gerechter. Man kann nicht jedem helfen, das ist klar. Aber werdet Euch bewusst, dass man durch seine Existenz vieles bewirkt. Das kann positiv sein, oder auch negativ. Mit jedem Einkauf im Supermarkt treffen wir Entscheidungen und stimmen damit darüber ab, was von der Industrie produziert wird. Das geht vom Liter Milch, über die Kleidung und den nächsten Urlaub bis hin zum Auto.

Jeder kann etwas tun

Sicher ist es auch immer eine Frage der Möglichkeiten. In Großstädten wie Hamburg, Köln, Berlin, Paris, London oder New York bekommt man mittlerweile fantastische vegane Optionen in jedem Supermarkt, in jedem Restaurant – es gibt sogar vegane Döner an jeder Ecke. In kleineren Städten und ländlichen Gegenden sieht das natürlich anders aus. Und auch das Budget spielt eine Rolle. Mir ist bewusst, dass nicht jeder das Glück hat, beim Einkauf im Supermarkt einfach immer ausschließlich das zu kaufen, worauf er Lust hat. So kommt man auf eine ganz andere Frage: Warum ist Gemüse teurer als Fleisch? Eine Packung Billigsalami bekommt man für ein paar Cent. Da sind ja sogar Tomaten teurer. Wie kann das sein?

Wer einmal diese Videos aus den Schlachthöfen gesehen hat – oder von Kühen, denen ihre Kinder entrissen werden und wie diese Tiere tatsächlich weinen können, dem ist klar: so kann es nicht weitergehen. Das wird uns alle zerstören. Meine Mutter hat mir neulich erzählt, dass es irgendwann ein Gesetz gab, dass das günstigste Getränk in Diskos, Clubs und Bars ein alkoholfreies sein muss. Damit die jungen Gäste nicht am Ende den ganzen Abend Bier trinken, eben weil es billiger ist als Wasser oder Cola. Ich denke, das wird mit Lebensmitteln schon bald ähnlich laufen. Denn dass der ausufernde Konsum von billigstem Industriefleisch nicht nur grausam für die Tiere und die Umwelt, sondern vor allem auch gesundheitsschädlich für den Konsumenten ist, scheint mittlerweile unumstritten.

Wir haben Paul getötet, aber wir können daraus lernen

Am Ende bleibt Geld leider der entscheidende Faktor unserer Welt. Eine junge Familie muss eben manchmal die 500 Gramm Wurst kaufen, weil sie so viel billiger ist, als die 500 Gramm Avocados. Das akzeptiere ich. Verantwortung und Nächstenliebe beginnt aber nicht erst an der Supermarkt-Kasse. Warum muss man beispielsweise eine Spinne töten, die im Badezimmer in der Ecke sitzt? Man kann sie auch mit einer Zeitschrift und einem großen Glas einfangen und zurück nach draußen setzen. Sich bewusst machen, dass es Lebewesen sind, über deren Leben wir urteilen, nur weil wir die vermeintlich größere, stärkere oder fähigere Spezies sind, reicht oft schon aus, um sein eigenes Verhalten ein wenig zu modifizieren.

So wie ich es ab heute machen werde. Sehr oft sehe ich seit diesem Donnerstag auf der A1 plötzlich das kleine Gesicht von Paul vor mir, wie er seine Nase in den Wind streckt und die Welt und mich neugierig und unschuldig betrachtet. Nichtsahnend, welches Verbrechen man ihm und seinen Artgenossen in jeder Minute jeden Tag antut. Die Wut und Trauer in mir ermahnen mich, für mich persönlich die Konsequenzen zu ziehen. Ich kann mehr tun. Jeder kann mehr tun. Ich werde mich in Paris nicht mehr auf eines dieser köstlichen Dessert-Kunstwerke einlassen. Ich werde bei jedem Dessert, das mich anlacht, an Dich denken, Paul. Und ich werde lächeln. Lächeln, weil Du an einem besseren Ort bist und gleichzeitig mich zu einem besseren Menschen gemacht hast. Ich werde viele Desserts nicht essen – aber vor allem werde ich Dich nicht vergessen, Paul.


Das Suchergebnis bei Adobe Stock nach "Kalb". "Kalb" ist kein Stück Fleisch, es ist ein Lebewesen. 


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